Der Heilige Abend ist schon fast vorbei, als ich in Varanasi ankomme. Auch in Nordindien ist Winter. Sobald die Sonne untergeht ist es kalt und nachts ziehen dichte Nebelfeldern auf. Aufgrund dessen haben zu dieser Jahreszeit sämtliche Züge und Flüge immense Verspätungen. Dennoch eile ich schnurrstracks zum «Assi Ghat». Dort bin ich mit Elena und Angelo, einem älteren Ehepaar aus «Bella Italia», zum Abendessen verabredet. Ich habe die beiden einige Tage zuvor auf dem Bahnsteig in «Jhansi» kennen gelernt, wo wir gemeinsam auf unseren verspäteten Zug nach Khajuraho warteten. Von ihren Kindern werden sie für verrückt erklärt, in ihrem Alter noch individuell durch Indien reisen zu müssen. Von mir erhalten sie großes Lob und volle Anerkennung. Bei vegetarischem Essen und antialkohlischen Getränken (Alkohol ist an den Ghats verboten), verbringen wir den Weihnachtsabend in völlig unchristlichen Ambiente.
Auch die kommenden Tage kommt bei mir keinerlei Weihnachtsstimmung auf, und das obwohl die nächtlichen Temperaturen an die Heimat erinnern. Ich befinde mich schließlich in Varanasi, eine der ältesten bewohnten Siedlungen der Welt und die spirituellste Stadt Indiens. Die Hindus glauben, dass Varanasi den Mittelpunkt des Universums bildet.
Varanasi zu beschreiben ist alles andere als leicht. Man muss es einfach selbst gesehen haben. Niemals zuvor hat mich ein Ort emotional derart bewegt, so nachhaltig beeindruckt. Ausgelassenes Leben und der Tod gehen in Varanasi Hand in Hand. Die Stadt am heiligen Ganges fesselt höchstwahrscheinlich jeden Besucher. Der Fluss ist Lebensadern und Friedhof zugleich. Zu den vielen Ghats (Badetreppen), die von der etwas höher gelegenen Altstadt hinunter zum Wasser führen, strömen täglich Einheimische und Pilger, um im Ganges zu baden oder Rituale durchzuführen. Sie versprechen sich dadurch Erlösung und Reinigung von Körper und Seele. Das der Strom zu den am stärksten verschmutzten Gewässern der Welt zählt, spielt aus hinduistischer Sicht keine Rolle. Im Gegenteil, «Mother Ganga» reinigt sich von selbst.
Die vielen Ghats sind es, die Varanasi so einzigartig machen und der Stadt ihren Charakter verleihen. Viele Male laufe ich die kilometerlange Uferpromenade ab. Ich schaue Jugendlichen beim Cricketspielen zu. Der Sinn dieses Sports wird mir auf ewig ein Rätsel bleiben. Kinder lassen selbstgebastelte Drachen aufsteigen, in deren Schnurr sich meine Beine wiederholt verheddern. Wasserbüffel stehen im Wasser und genießen das kühle Nass. Daneben planschen Kinder oder es wird Wäsche gewaschen. Ich sehe heilige Männer beim Haschisch rauchen und westliche Hippies, die es ihnen gleichtun.
Und dann wäre da noch die Sache mit dem Tod, der in Varanasi allgegenwärtig ist. Jeder gläubige Hindu möchte in dieser Stadt sterben und an den Ufern des Ganges verbrannt werden. Wer es schafft, dem ist ein Ausbruch aus dem endlosen Kreislauf der Wiedergeburt sicher. Am «Manikarnika Ghat», dem größten Krematorium der Stadt, werden rund um die Uhr Leichen verbrannt. Die dahinterliegenden Gebäude sind schwarz vom Rausch und Ruß der ewig lodernden Feuer. Mit dem nötigen Respekt und etwas schlottrigen Knien nähere ich mich dem Ort. Dann sehe ich die ersten Scheiterhaufen. Einige brennen bereits. Ich erkenne herausragende Körperteile und bilde mir ein das Knacksen eines Schädels zu hören. Angehörige versammeln sich um das Feuer, ruhig und bedächtig. Tränen an diesem Ort verbietet der Aberglaube.
Am Ufer liegen weitere Leichen. Die der Männer in weiße und die der Frauen in farbige Tücher gewickelt. Sie warten darauf auf einen der nächsten Holzstapel gelegt und vom Sohn des Verstorbenen entzündet zu werden. Bis ein Mensch zu Asche wird, vergehen mehrere Stunden. Da Holz sehr teuer ist, erfolgt oft keine vollständige Verbrennung. Daher wird nicht nur Asche in den Fluss gestreut, sondern auch nicht vollständig verbrannte Leichenteile. Bei meinen Spaziergängen am Fluss, blieb mir der Anblick vorbeischwimmender Körperreste, Gott sei Dank erspart.
In den engen Altstadtgassen reihen sich kleine Geschäfte und Lokale aneinander. Wer hier nicht den Orientierungssinn verliert, der muss was falsch machen. Ich jedenfalls irre tagtäglich mehrere Stunden durch das Labyrinth. In den unzähligen Gassen ist gerade genug Platz zum Laufen. Dennoch teilt man sich diesen mir Mopeds, Müll, Ziegen, Schweinen, Kühen und deren Ausschiedungsprodukten. An einigen Stellen stehen Polizisten mit Maschinenpistolen. Religiöse Konflikte stehen in Varanasi an der Tagesordnung. Bombenanschläge rissen hier bereits Menschen in den Tod.
Im «Blue Lassi» trinke ich einen dieser leckeren Joghurtgetränke. Während ich auf einem kleinen Hocker sitze und nach draußen blicke, ziehen wiederholt Männer an mir vorbei, die singend in Tücher gewickelte Leichen zum Fluss tragen. Der Tod gehört zum Leben – das war mir bewußt. Doch in Varanasi habe ich mir zum ersten Mal richtige Gedanken über diesen Satz gemacht. Im Christentum spricht man eher wenig über den Tod, man verdrängt dieses Thema nur allzu gern. Im Hinduismus scheint der Tod wirklich zum Leben zu gehören – zumindest in Varanasi.