Bevor man in ein neues Land reist, macht man sich natürlich Gedanken darüber, was einen dort erwarten wird. Über den Iran hatte ich von allen Seiten nur positives gehört. Islamische Architektur, schöne Landschaften, archäologische Fundstätten und vor allem die Gastfreundschaft. Die ersten drei Punkte kann man in vielen Ländern auf der Welt vorfinden. Beispielsweise hat Usbekistan architektonisch, viel beeindruckendere Städte zu bieten als der Iran. Die Gastfreundschaft der Iraner hingegen, dürfte weltweit seinesgleichen suchen. Ständig wird man auf der Straße angesprochen, in ein Gespräch verwickelt oder auf ein Gläschen Tee eingeladen. Stets ohne jeglichen finanziellen Hintergedanken. Taxifahrer und Teppichhändler mal ausgenommen. Scharia, Kopftuchzwang, Alkohol- und Musikverbot wird nur nach «außen» gelebt, weil es das Gesetz so verlangt. In den eigenen vier Wänden, lebt die Mehrheit der Iraner wie du und ich. Doch das es im Iran einen Ort gibt, in dem öffentlich die «Sau rausgelassen» wird, dass hätte ich niemals für möglich gehalten.
Die Rede ist von dem kleinen Dorf Ghalat, das sich etwa 40 km nordöstlich von Shiraz befindet. Ein Teppichhändler aus Esfahan, erzählte mir von diesem Ort, an dem sich jedes Wochenende die jungen, hippen «Shirazis» treffen, um sich im Schutz des Waldes zu vergnügen. Das machte mich neugierig, zumal er weitere Einzelheiten völlig offen ließ.
Mit dem Stadtbus fuhr ich von Shiraz hinaus auf’s Land. In Ghalat angekommen, machte ich mich umgehend auf die Suche nach dem verbotenen Treiben. Während ich durch die Gassen des vom Zerfall bedrohten Ortes lief, konnte ich zunächst nichts auffälliges beobachten. Im Gegenteil, alles wirkte sehr beschaulich und ruhig.
Ich zweifelte an den Erzählungen des Teppichhändlers. Doch dann lief ich einen steilen Abhang zum Fluß hinunter und sah die ersten Lokalitäten. Ich besuchte Ghalat unter der Woche und demzufolge waren diese menschenleer. Aus einer Bar schallte Modern Talkings «Brother Loui» auf die Straße. Erwartungsvoll trat ich ein, um einen Tee zu trinken. Die Augen des Kellners leuchteten mich feuerrot an. Er schien völlig zugenebelt zu sein und verstand mein Anliegen nicht. Ich machte die Kehrtwende. Kurz darauf hielt ein nagelneuer Peugeot neben mir. Aus dem Innenraum grüßten mich zwei mächtig coole Typen. Auf der Rückbank saßen zwei blondierte Mädchen, natürlich ohne Kopftuch. Der Beifahrer drehte sich gerade einen Joint und wollte mich zum Mitrauchen überreden. Ich fragte ihn, ob sie keine Angst vor der Polizei hätten? Nein überhaupt nicht, «Ghalat is no man’s land». Als ich bereits wieder zurückfahren wollte, lernte ich «Puria» und seine Freundin «Satia» kennen. Puria hat zehn Jahre in der Schweiz gelebt und dort natürlich nur Schwiizerdütsch gelernt. Dementsprechend schwer fiel mir die Verständigung mit ihm. Netterweise nahm er mich mit zurück nach Shiraz und lud mich am Abend zu sich nach Hause ein.
Puria wohnt mit seiner Mutter und seiner Schwester in einer blitzsauberen Neubauwohnung am Rande der Stadt. Wie ich später erfahren sollte, nahm er meinen Besuch zum Anlass, seiner Mutter Satia zu präsentieren. Wir knapperten Studentenfutter, tranken scheußlich schmeckendes Bier und Satia spielte selbstkomponierte Lieder auf der Tar (iranisches Saiten-Musikinstrument). Selbstverständlich habe ich auch Puria gefragt, wie es den Ort Ghalat in der islamischen Republik Iran überhaupt geben kann. Verständlich erklären konnte er es allerdings nicht; und das lag weniger an der Sprachbarriere. Meine Theorie ist die folgende: Mit Sicherheit ist die Polizei über den Gesetzesbruch in Ghalat im Bilde. Solange sich dort aber nur ein paar aufmüpfige Jugendliche treffen, lässt man die Zügel bewusst locker. Schließlich können sie im Verborgenen dem Regime am wenigsten schaden. Ein cleverer Schachzug, wie ich finde – falls meine Vermutung richtig sein sollte.